Eröffnungsrede (Volker Harrach, Köln)


KRAUS - Zeitstreifen

"Ich will nicht, dass ein Bild wie etwas aussieht, das es nicht ist, und ich bin der Meinung, dass ein Bild wirklicher ist, wenn es aus Teilen der wirklichen Welt gemacht ist."
Robert Rauschenberg

Zeitstreifen – eigentlich die bildliche oder grafische Abfolge eines Zeitgeschehens, welche als Dokumentation eine geschichtliche Entwicklung darstellt.

Die Klebearbeiten von Max Otto Kraus haben ein formal ähnliches Konzept. Auf einem DIN A4 großen Briefpapier montiert er Bildausschnitte aus alten "Spiegel"-Ausgaben quer zu einer Reihe an, welche eine neue Aussage bilden. Die ursprünglichen Fotos sind aus dem Kontext der Nachricht gelöst, und es fehlen zudem die Bildüber- und unterschriften. Mit dem Prinzip der Décollage formatieren die entstandenen Ausschnitte lose Fragmente der Realität zu einer neuen heterogenen Anordnung und legen so die Indifferenz der einstigen Bildintention offen. Darin lag das Faszinierende für Kraus: „Welche Bilder bzw. Bildausschnitte erkenne ich, was haben diese mit mir zu tun, welche Erinnerungen und Gefühle etc. rufen diese wach, verleiten mich zu welchen Assoziationen, die mit den "ursprünglichen Informationen" nichts, aber auch gar nichts gemeinsam haben.“

Aus der Distanz erscheinen die Zeitstreifen als bunte Filmnegative oder als eigenständige Komposition von Farb- und Formeinheiten. Bei näherer Betrachtung jedoch offenbaren sie eine komplexe Bildwirklichkeit. Die Aneinanderreihung von Details, die eine jeweils eigene Geschichte besitzen, entzieht sich der Eindeutigkeit. Ein geschichtlicher Zusammenhang der aus beiden Richtungen lesbaren Zeitstreifen, ist nicht vordergründig gegeben. Der Betrachter wird durch die jeweils verschiedene Anordnung angeregt, eigene semantische Bezüge zu realisieren, zu deuten, oder sich Deutungsfelder zu erschließen. Dennoch sind sämtliche Bilder in gewisser Weise miteinander verbunden; stellen sie doch einen Teil des kollektiven Bildgedächtnisses zu einer von vielen Lebenden geteilten Zeit dar.

Vergleichbar mit der künstlerischen Infragestellung des durch den Ersten Weltkrieg pervertierten bürgerlichen Kunstbegriffs und seinen zugrunde liegenden Moralvorstellungen durch die Dadaisten, war die Arbeit zunächst als „visuelles Kriegstagebuch“ zum dritten Irakkrieg (2003) geplant. Später verselbstständigte sich diese zu einer losen Dokumentation von aktueller Zeitgeschichte und als Auseinandersetzung mit der persönlichen Geschichte seines Vaters. Die Zeitstreifen sind das Ergebnis einer (Un-)Wirklichkeitsaneignung, wobei das zitierte Zeitgeschehen wiederum nur eine ästhetische Wirklichkeit des Bildes hervorbringt. Deren Papiers collées verweisen fragmentarisch auf technische, soziale und politische Aspekte der heutigen Welt und treten als Bewältigung der Realität durch die Kunst in eine sichtbare Spannung zueinander.

Zur Technik:
Ausgangsmaterial sind Fotos aus dem Nachrichten-Magazin "Der Spiegel". Als Normierung werden jeweils 32 mm hohe Bildteile davon ausgeschnitten, die in ihrer Breite variabel sind. Diese werden dann zu einer Fotoreihe, dem "Zeitstreifen" quer auf unbenutztem Briefpapier seines Vaters collagiert. Somit wird die Subjektivität der Aneignung durch das Ausschneiden und Aufkleben auf dem Briefbogen zu einer Objektivität jenseits der ursprünglichen Bildintention. Die leeren Blätter generieren als Nachricht zu Bildträgern und bilden dadurch eine eigene Sprache. Deren roter Faden ist der durchschimmernde Firmenname KRAUS, das Leben und die Geschichte des Vaters. Diese rein „analoge“ Arbeit mit den Bildausschnitten ist unwiderruflich und kann nicht durch den „Befehl + z“ wie am Computer rückgängig gemacht werden. Die nächsten Ausschnitte müssen sich mit den vorherigen „anpassen“, funktionieren.



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